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AutorenbildAntonia Braditsch

Von Affektlauten zur Sprache



Die Stimme ist eine spezifisch menschliche Erscheinung. Auch wenn die Schallerzeugung ein im Tierreich weit verbreitetes Mittel zur Kommunikation darstellt, hat die menschliche Stimme eine unerreichte Variabilität. Höhere Säugetiere besitzen einen dem Menschen in groben Zügen ähnlichen Aufbau des Stimmapparates, haben jedoch keine Sprache als eine organische Funktion ausgebildet, die eng mit der Gesamtpersönlichkeit des Menschen verbunden ist.


Unser Stimmapparat entwickelte sich aus Organen, die ursprünglich – und auch heute noch – für primäre Funktionen wie Atmung, Kauen und Schlucken zuständig sind. Dabei ist der Kehlkopf Schutzorgan für die unteren Atemwege und zugleich Tongenerator für die Stimmgebung. Die Ausformung des menschlichen Stimmapparates in seiner heutigen Gestalt und Funktion erfolgte entwicklungsgeschichtlich gleichzeitig mit dem Übergang zum Homo sapiens. Es gibt begründete Meinungen, dass diese Gleichzeitigkeit, die auch mit einer rapiden Vergrößerung des Gehirnvolumens verbunden war, kein Zufall ist. Die Entwicklung der Stimme und – in weiterer Folge – der Sprache ist ein bedeutender Meilenstein unserer Menschwerdung.


Der Übergang zum aufrechten Gang, der wiederum zum Absinken des Kehlkopfes führte, war die biologisch-funktionelle Voraussetzung für eine höhere Sprachlichkeit. Am Anfang aller Kommunikation stehen die Affektlaute, emotionale Stimmäußerungen, die aus Gefühl und Instinkt geboren sind: Alles sind Signale und Mitteilungen, die eine soziale und koordinierende Funktion haben.


Die genetisch verankerte Stimme wird von der rechten Gehirnhälfte, dem limbischen System, gesteuert. Im Lauf der Menschheitsgeschichte hat der Mensch gelernt, auch die linke logisch-denkende Hälfte seines wachsenden Großhirns für Sprachaufgaben zu nutzen. Die Entwicklung einer gewollten Lautproduktion – die „Fähigkeit zur symbolisch gestützten Sprache“ – bezeichnet den Übergang von der biologischen zur kulturellen Geschichte beim Menschen.


Die Stimme als persönlichstes Ausdrucksmittel des Menschen wurde bereits in der Antike erkannt. Das griechische Drama prägte für fast tausend Jahre die europäische Kulturgeschichte. Dabei trugen die Schauspieler (es gab nur männliche Darsteller 😉) Masken, durch die sie hindurch-sprachen (per-sonare), um so eine Person, d.h. eine Rolle in ihrer Eigenart darzustellen. Neben den Schauspielern und Sängern für die „Bühne“ (die sich üblicherweise im Freien befand), war eine effektvolle Stimme auch für Priester, Politiker und Lehrer wichtig. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass zahlreiche Ausbildungsstätten gegründet wurden.


Ausgehend von der Lehre des griechischen Philosophen Empedokles (um 490 – 430 v. Chr.) wurden bestimmte Stimmtätigkeiten, wie Schreien, Rufen, freies Sprechen oder Vorlesen zur allgemeinen Gesundheitspflege gezählt. In den Rednerschulen des römischen Staatsmannes und berühmten Rhetorikers Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.) wurde nicht nur der Inhalt von Reden diskutiert, sondern auch die Übung von Ausdruck und Stimmgebung besaß einen hohen Stellenwert. In seinem Buch De Oratore (Über den Sprecher) rät er: „Wir müssen auch die Zunge, den Atem und sogar den Klang der Stimme regulieren … Sie bieten dem Redner, wie dem Maler seine Farben, zur Abwechslung an.“


Mit Stand 2020 wird der deutsche Wortschatz auf eine Zahl zwischen 300 000 und 500 000 Wörter geschätzt. Der Standardwortschatz eines „gebildeten“ Erwachsenen liegt (angeblich) bei ungefähr 75 000 Wörtern, wobei der „durchschnittliche“ Österreicher über einen Wortschatz von 12 000 bis 15 000 Worten verfügt. Diese Angabe bezieht sich auf den aktiven Wortschatz, also auf die Wörter, die wir regelmäßig mündlich oder schriftlich benutzen. Der passive Wortschatz, dessen Worte wir zwar verstehen aber nicht benutzen, wird auf ungefähr 50 000 Worte geschätzt. In den Werken des überragenden deutschen Dichters Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) haben Experten nachgezählt und an die 91 000 verschiedene Wörter gefunden.


Mit der Stimme wird über die Sprache nicht nur Information vermittelt – dies könnte auch schriftlich erfolgen –, mit der Stimme werden auch Gefühle weitergegeben. Die 1944 geborene österreichische Psychotherapeutin Rotraud Perner drückt dies bezüglich der Liebe folgendermaßen aus: „Wenn ich über Liebe schreibe, dann komme ich an die Grenzen der Sprache. Wenn ich aber über Liebe spreche, können die Zuhörer an meiner Stimme erkennen, ob ich liebe oder nicht.“


Durch den Funktionswandel der Stimmlippen, des Mundraumes und der Nasenhöhle, variierbar durch die Muskulatur der Zunge, Wangen, Gaumensegel, Kiefer und Schlund, entwickelt sich unsere sprachlich-akustische Welt. Die „Naturstimme“ des Menschen ist dabei ein evolutionäres Erbe. Er hat sie irgendwann auch zur „Singstimme“ erweitert, um sich emotional vielseitiger ausdrücken zu können. Doch das ist eine andere Geschichte…



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