Die Stimme ist innerhalb archaischer Rituale das wichtigste Medium, der Schlüssel zu Geisterwelt. Schamanische Beschwörer, eine spezialisierte Kaste aus Fachkräften, eine Priesterschaft, artikuliert rituelle Formeln und Gesänge, die das Tor zu anderen Ebenen öffnen sollen. Diese magischen Rituale und Gesänge finden für die Gruppe statt und sind daher stets auch eine soziale Handlung. Die musikalische Verbundenheit, der gemeinsam erzeugte Schall, generiert auch ein kooperatives Wollen, formt aus den Individuen einen Kollektivkörper. Singend und tanzend nimmt der Mensch den Kampf gegen Naturgewalten, feindliche Stämme und Mächte auf.
Eine moderne Ausdrucksform des Schamanismus ist der Starkult in der Popmusik. Restbestände haben sich bei uns in Rockkonzerten oder in den Chorgesängen der Fußballstadien erhalten. Es sind gemeinschaftsstiftende, trancefördernde Rituale, die über Atmung und Stimme für einige Stunden ein Kollektiv erschaffen und beschwören. Relikte dieser Formen sind auch noch heute in der Liturgie enthalten, denn auch das Anrufen Gottes entstand aus den Tonfolgen magischer Beschwörungsformeln.
Die Resonanzen der Klänge durch Singen und Trommeln durchströmen den Körper des Singenden und vermehren seine Bereitschaft, übersinnliche Wirkungen und Kräfte zu erleben. Jede Veränderung der Stimmmodulation ist Träger einer anderen Kraft, jeder Krankheitsgeist hat seine eigene Melodie. So können rituelle Gesangsformeln auch Krankheiten austreiben. Dabei wird der Kranke nicht isoliert, er bleibt Teil der Gemeinschaft, fühlt sich sicher und spürt Geborgenheit und das psychologische Wohlbefinden mobilisiert die eigenen Heilkräfte.
Die chinesische Medizin nutzt das Singen bestimmter (heiliger) Silben als Heilmittel, um auf bestimmte Organe einzuwirken. Auch die europäische Antike kannte den Zusammenhang von Stimme und Körper. Stimmübungen galten als eine Art Medikament, um Krankheiten zu heilen, die Gesundheit zu wahren, Selbstheilungskräfte zu aktivieren und das Gleichgewicht zwischen Körper und Seele zu erhalten.
Das Singen von Tönen, die gleichsam aus einem selbst heraus entstehen, ist evolutionär tief in unserer Biologie verankert und hat nachweislich positiven Einfluss auf Sauerstoffversorgung, Herzfrequenz, Blutdruck, Muskelspannung und Gehirntätigkeit. Mittlerweile ist es auch wissenschaftlich erwiesen, dass Singen unsere körperliche und seelische Gesundheit fördert. Es löst in den basalen Schichten des Gehirns vegetative Reaktionen aus. So erzeugen harmonische besonders ergreifende Passagen einen Wechsel der Körpertemperatur und der Pulstätigkeit. Der Atem kann stoppen, Tränen steigen auf, oft reagieren wir auch mit Gänsehaut.
Die Stimme ist das älteste Heilinstrument der Menschheit und Singen war immer Teil des sozialen Lebens, verbunden mit Gemeinschaft, Heilung, Ritual und Spiritualität. Dabei trägt jeder mit seiner Stimme zum gemeinsamen Klangerlebnis bei, sodass der Satz ‚Ich kann nicht singen!‘ vollkommen an Bedeutung verliert. Siehe Blog "Stimme und Person".
Wenn man sich für den mutigen Weg entscheidet, seine Stimme laut und deutlich zu erheben, wird einem klar, dass das Tönen der Stimme gar nicht „schön“ sein muss – ja es auch gar nicht sein soll! Die Kraft in der eigenen Stimme zu spüren, geht nur über lebendige Authentizität. Das Durchtönen der ursprünglichen Lebenskraft aus unserem Innersten erinnert uns daran, wer wir wirklich sind, und begleitet uns auf dem Weg der bewussten Selbstentfaltung.
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