Hildegard von Bingen (1098–1179) ist seit dem christlichen Mittelalter eine einzigartige und unerreicht dastehende Persönlichkeit. Sie gründete zwei Klöster, dichtete Hymnen und komponierte liturgische Gesänge, verfasste ein umfangreiches theologisch-philosophisches Werk und hinterlässt eine außergewöhnliche Naturheilkunde. Sie wetterte auf Predigtreisen gegen Maßlosigkeit, Geldgier, Machtmissbrauch und Ämterschacher (damals schon 😉) und stand mit weltlichen und religiösen Entscheidungsträgern in ganz Europa im mahnenden Briefwechsel.
Die Musik der heiligen Hildegard ist ohne den Hintergrund ihrer benediktinischen Lebensform nicht zu verstehen. Schon mit 14 Jahren begann für Hildegard das klösterliche Leben im Schatten eines Mönchskonvents. Als 16jährige entschied sie sich auf Lebenszeit für die benediktinische Lebensform, deren Ordensregeln von Benedikt von Nursia (um 480 – 547) um 540 n. Chr. verfasst wurden.
Die Benediktusregel bedeutet für die Mönche und Nonnen, dem Gottesdienst nichts vorzuziehen. Das ganze monastische Leben verlief – und verläuft auch heute noch – unter dem Zeichen der Liturgie, im Rhythmus des Stundengebets und der Zeiten und Feste des Kirchenjahres. (Siehe Blog „Von der Sonnenuhr zum Computer – Historie der europäischen Zeitrechnung“) Ihr Glaube äußert sich bis heute nirgendwo so intensiv wie in der Liturgie (griech. liturgeia = Werk, Dienst), dem Bemühen Gott in allem zu verherrlichen.
In den Gottesdiensten wurde – und wird im Kloster der Heiligen Hildegard in Eibingen bis heute – alles gesungen. Die älteste musikalische Tradition des Christentums ist der Gregorianische Choral. Die Wurzeln der Gregorianik liegen schon in der Frühzeit der Kirche. Das Repertoire ist seit dem 8. Jahrhundert bekannt, obwohl es damals noch keine Notenschrift gab. Aber die Melodien waren dem Gedächtnis der Kantoren anvertraut. Eine erste Notenschrift entwickelt sich im 9. Jahrhundert mit den Neumen, die einzig die Tonbewegungen über dem Text angeben.
Im 12. Jahrhundert entsteht eine Fülle von Schriften, die die Mönche für die Liturgie verfassen. Höchstes Ziel der neuen Texte, Tropen, Sequenzen, Hymnen und Gedichte war, Gott zu loben, ihm Antwort zu geben auf die Liebe zu seinen Geschöpfen. Die mittelalterlichen Autoren bedienten sich der Heiligen Schrift, die heilsgeschichtliche Offenbarung stehen im Mittelpunkt ihrer Frömmigkeit. Die Freude an Gott und seinen Wohltaten in der Schöpfung musste quasi immer wieder gesungen, gejubelt werden.
Auch Hildegard besingt in unzähligen Variationen das göttliche Werk, das Mysterium der Inkarnation, den gesamten Kosmos. Ihre mit absoluter Vorliebe verwendeten Schlüsselworte Symphonie, Harmonie, Klang entnimmt sie dem Bereich der Musik und besingt damit Gott, den Schöpfer und Vater, den menschgewordenen Sohn Jesus Christus, den Heiligen Geist, die Patriarchen und Propheten, die Apostel und Märtyrer, die Bekenner und Jungfrauen. Von ihren 77 erhaltenen Gesängen sind allein 16 Maria gewidmet, die im Mittelalter einen besonders hohen Stellenwert hatte.
Für Hildegard ist Gesang Widerhall der himmlischen Harmonie und somit göttlichen Ursprungs. Als einzige Frau des deutschen Mittelalters hat sie einen umfangreichen lyrisch-musikalischen Zyklus geschaffen, den sie Symphonia harmoniae caelestium revelationum – Symphonie der Harmonie himmlischer Offenbarungen nennt. Die einstimmigen liturgischen Gesänge sind in Neumenschrift als skizzenhafte Zeichen für die Tonhöhe in einem Vierliniensystem notiert und weisen im Vergleich zur damals gebräuchlichen Gregorianik einen sehr weitläufigen Tonumfang auf.
Natürlich sind keine Originalklänge erhalten geblieben. Aber unter größtmöglicher Einhaltung der historischen Aufführungspraxis könnte der Hymnus „O virid
issima virga, ave“ – „O du allergrünster Zweig, sei gegrüßt“ so geklungen haben: https://youtu.be/HGLEIBpvROY. Auch eine modern-groovige Version habe ich anzubieten: Modern Mystic Music "O viridissima virga" (https://youtu.be/kqNwactESQA), deren Kurzversion mit schwarz-weiß Bildern von Franz Baldauf hinterlegt wurde.
„Beim Hören eines Liedes pflegt der Mensch manchmal tief zu atmen und zu seufzen, weil er sich daran erinnert, dass die Seele der himmlischen Harmonie entstammt. Er wird sich dabei bewusst, dass seine Seele symphonisch ist … Deswegen muss der Leib im Einklang mit der Seele seine Stimme zum Gotteslob erheben.“ (Brief an die Mainzer Prälaten, 1178)
Auch die Schwestern der Abtei St. Hildegard in Eibingen bei Rüdesheim pflegen seit den Anfängen ihrer Klostergeschichte im Jahre 1150 (1. Klostergründung Hildegards auf dem Rupertsberg) das Singen des Gregorianischen Chorals. Die langjährige Chorleiterin und Organistin des Frauenklosters Sr. Christiane Rath OSB (1951 – 2020) schreibt über den Stellenwert der klösterlichen Gesänge: „Die Musik insgesamt, aber auch das Singen aus der Herzensmitte heraus gibt uns immer einen kleinen Vorgeschmack des Himmels, des Ortes der Harmonie.“
Hildegard war bereits von ihren Zeitgenossen eine hoch respektierte, vielbewunderte Frau und wurde als Prophetissa teutonica gepriesen. Sie selbst empfand sich nur als einfaches Sprachrohr Gottes. 1227 wurde ein erster Antrag auf Heiligsprechung gestellt. Am 10. Mai 2012 wurde sie von Papst Benedikt XVI. heilig gesprochen und am 17. Oktober 2012 feierlich zur Kirchenlehrerin erhoben.
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